— Nur ein Traum —

Du sitzt an einem Tisch und willst etwas in Ruhe notieren. Doch jemand klopft ständig an die Tür und stört dich bei dem, was gerade ansteht. Immer wieder bittet dich diese Stimme um deine Aufmerksamkeit. Mit den verschiedensten Mitteln. Dieser jemand flüstert dir zu, ruft laut um Hilfe oder lärmt, er verängstigt dich, fleht dich an, setzt dir Sorgen oder Flausen in den Kopf, fragt dich um Rat, er erteilt kluge Ratschläge oder weiß, wie etwas besser laufen kann – was auch immer – dieser jemand fordert deine ungeteilte Aufmerksamkeit und verlangt nach einer Reaktion. Und früher oder später gehst du tatsächlich darauf ein. Und auch weiterhin hörst du ihm zu. Mal lehnst du seine Gesuche einfach ab oder beschwichtigst sie. Mal antwortest du eher beiläufig oder fragst verwundert nach. Dann wieder wägst du ab, ob es wichtig oder unwichtig, richtig oder falsch zu sein scheint, was da an dich heran getragen wird. Auch gelingt es dann und wann, die ständigen Reize einfach zu ignorieren. Doch nicht für lange Zeit. Diese unzähligen Angelegenheiten, die dieses Wesen dir vorträgt, seine Rufe, seine Kommentare, sie fahren dir durch Mark und Bein. Es scheint so, als behandelst du sie nun sogar wie deine eigenen. Denn irgendetwas daran scheint doch wieder irgendwie wichtig oder zumindest (halbwegs) interessant genug zu sein, um dich damit zu beschäftigen.

Der Unruhestifter ist dein Ego. Und dein Ego lebt von deiner Zuwendung und ernährt sich von Aufmerksamkeit. Es ist unersättlich, und je mehr Aufmerksamkeit du ihm schenkst, desto mehr verlangt es. Dein Ego ist hungrig und will wachsen. Zumindest aber will es ein sattes, wohlgenährtes Leben in deiner Gegenwart führen. Dabei ist das Ego, wenn man sein Verlangen nach Zuwendung, die es pausenlos anstrebt, verwehrt, ein unwichtiges und vergängliches Phänomen.

Des Egos innigste Tätigkeit besteht darin, Gedanken gleich welcher Art als wichtig erscheinen zu lassen und sich selbst durch sein mannigfaltiges Treiben als (anscheinend) gleichermaßen wichtig zu etablieren. Dabei agiert es ziemlich chaotisch, und nicht ohne Grund, denn das Chaos ist seine Natur – auch wenn es dir gegenüber seinen chaotischen Zustand hinter einem dünnen Schleier aus einer scheinbar nachvollziehbaren Ordnung verbergen möchte.

Für gewöhnlich hat sich dein Ego gut in deinem Leben [offenbar verselbstständigt] eingerichtet und somit hat es zugleich dein Leben eingerichtet – und dich als Handlanger darin situiert. So gibt es immer was zu tun, etwas, von dem dein Ego behauptet, es wäre zu tun. Hier und da. Anschaffen, abschaffen, mehr davon, weniger davon – dann wieder umgekehrt und manchmal doch wieder ganz anders.

Das Ego und sein andauerndes Springen zwischen angeblichen Zuständen wie richtig und falsch, wichtig und unwichtig, gut und schlecht, begehrlich und widerlich, hat beileibe weder die Wichtigkeit noch die Richtigkeit, welche es immer wieder in verschiedensten Ausdrucksformen glaubhaft vorzutäuschen weiß. Aber du gehst Minute für Minute, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr auf die nimmersatten Wünsche des Ego ein. Dadurch wird es wiederum in vielen seiner Wünsche bestätigt. So bläst es sich auf und lässt einfach nicht locker. Und dies ist fürwahr eine äußerst schmerzhafte Abhängigkeit, in der du immer wieder festzustecken scheinst. Von klein auf mit Zuwendung gefüttert, ist eine feste Bindung zwischen 'euch' entstanden. Und es ist tatsächlich verschleiert, wo deine "wahren" Bedürfnisse liegen. Selbst deine chaotische und sprunghafte Scheinidentität als manifeste Person, mit der du dich weitestgehend gleichsetzt, fällt von Zeit zu Zeit in sich zusammen, sei es emotional oder rational, um dann durch die Erinnerungen an sich selbst das fortzuführen, was sie einst durch Identifikation zu festigen begonnen hat. Du bist X, magst Y und willst Z. Oder auch anders. Jedenfalls bist du ein Mensch, du kannst denken, du weißt, dass es Dinge gibt, die man vermeiden sollte, dass es Dinge gibt, die man tun sollte, du isst, du trinkst, du gehst auf Klo, du hast moralische Werte und selbstverständlich ein eigenes Leben, das du nach eigenen Vorstellungen gestaltest und mit deinem Bild von dir selbst abstimmst. Mal besser, mal schlechter. Wie das eben so ist.

Und wohl kaum kommst du von selbst auf die Idee, dich zu fragen, ob das alles wirklich ist.

Du entwickeltest eine Art zu Denken, bei der es sich vor allem darum dreht, dass etwas anders sein soll, wie es augenscheinlich ist. Deine (von Zeit zu Zeit recht gegensätzlichen) Wünsche und die Annahme, spezielle Zustände erforderten dein Eingreifen und eine Veränderung durch dein Zutun, basieren an sich auf den falschen Konzepten des Egos und auf dein davon beeinflusstes Selbstbild. Deshalb ist Misslingen und anhaltendes Chaos vorprogrammiert.

Das Ego ist ein König und herrscht – ganz allein deshalb, weil DU ihm diese Macht zugesprochen hast. Jetzt sitzt der Herrscher auf dem Thron und waltet nach Gutdünken. Das Ego ordnet an, und du führst aus – was es auch sei. Auch wenn wir das Bild etwas wandeln, und dir in diesem Beispiel die Rolle des Königs/der Königin zugestehen, so bleibt das Ego, das mit seinem Talent zur scheinbaren Voraussicht und Koordination eindringlich für sich selbst wirbt, stets dein relevanter Berater, dessen oftmals sogar vernünftig erscheinende Einwände du nachgiebig tolerierst und ihnen folge leistest. Auch kann es dazu kommen, dass das Ego aus heiterem Himmel alles abstreitet und alle Verantwortung von sich weist: "Ich weiß von nichts. Ihr, werter Herr, seid der Herrscher und wisst, was zu tun ist." Doch weiß man von nichts, wenn man sich im Vorfeld so sehr auf die wirren Ratschläge des Egos eingelassen hat und nun ohne ein fundamentales und angemessenes Vertrauen Entscheidungen treffen soll. Im Grunde genommen kann man keine umfassenden Entscheidungen treffen, solange man keine umfassende Sicht der Dinge hat [das wäre nochmals ein spezielles Thema]. So wendet man sich wieder kleinlaut an das Ego und hört, was es zu sagen hat.

Das Ego hat die Erfahrung gemacht, dass du dich früher oder später um seine scheinbaren Angelegenheiten, was immer es auch sei, kümmerst und tatsächlich auf sie eingehst.

Die Lösung, und damit einhergehend dein seelischer Frieden, besteht darin, die unzähligen, widersinnigen und unangebrachten Forderungen des Egos zu vernachlässigen. Das missfällt dem Ego anfangs sehr. Denn wenn es nicht kriegt, was es will, dann rebelliert es. Es rebelliert gewaltig, schon nach kürzester Zeit. Denn es hat Angst, an Einfluss und somit an Stärke zu verlieren. Zu Recht. Doch geh nicht darauf ein. Lass es rebellieren, denn indem du es zunehmend weniger wichtig nimmst, verliert es an Stärke und es wird schwächer. Und gleichzeitig verliert des Egos Rebellion an Relevanz. Schach! Je schwächer es wird, desto geringer ist des Egos Einfluss auf deine Konzentration und auf deine stabile Wahrnehmung dessen, was im Augenblick ist. Wenn du dem jeweiligen Augenblick volle Aufmerksamkeit schenkst, und nicht weiter dem kleinen Etwas, dessen einziges Ziel es ist, deine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dann verstehst du mehr und mehr, was es bedeutet, frei [vom Ego] zu sein. Du erfährst deinen eigentlichen Zustand innerer Ruhe und du erkennst, dass die Quelle deiner Wahrnehmung nicht dein Verstand ist. Folge diesem Weg, und du siehst ein, dass du dich selbst auf einmal mit Worten nicht beschreiben, mit Blicken nicht sehen, mit Ideen nicht fassen kannst. Was du bist, geht über in eine stille Weite, in ein unfassbares Sein, in einen tatsächlichen Frieden. Wenn du loslässt von dem 'Ich', das lediglich die Idee der Person ist, von der du ein Leben lang angenommen hast, sie zu sein, dann erfährst du Befreiung. Und selbst diese Befreiung ist nur ein Effekt im Zuge der Korrektur deiner Wahrnehmung. So wird dir eine tiefe Wahrheit zuteil, und du kommst in Erfahrungsbereiche, die jenseits von körperlichen, materiellen Wahrnehmungen liegen.

Es scheint, als müsse dies zumeist in Form einer Entwicklung stattfinden; als ein Weg, der begangen werden muss. Das Leben dient dazu, unter speziellen Umständen Spezielles zu lernen. Im Grunde ist es sehr einfach, sein Spiegelbild nicht mit sich selbst zu verwechseln. Doch in einer Verwirrung, sozusagen im Traum, mag dieses äußerst schwierig erscheinen – da das Augenmerk stets auf die Wirkung gerichtet ist, anstatt auf die Ursache. Wieder und wieder reagieren wir im Affekt auf die Wirkung(en), ohne uns der Ursache zuzuwenden, geschweige denn, ihr bewusst zu sein. Wie kann dies etwas anderes als Verwirrung nach sich ziehen? So sind wir im Traum gebunden und folgen fest gebannt, gepeinigt und beglückt zugleich, dieser eindringlichen Phantasie. Doch was und wie wir sehen, bleibt lediglich ein Traum. Ein Traum, den wir für wirklich halten, gleich der Figur, als die wir im Traum erscheinen. Diese Figur ist sich ihrer wahren Natur nicht bewusst, und so bekräftigt sie ihre scheinbare Identität und den damit in Verbindung stehenden Traum dadurch, dass all dies als absolut wirklich 'erfahren' wird. So besteht kein Zweifel, dass das, was ist, nicht ist. Das verspricht der gesunde "Menschenverstand", der schließlich weiß, was richtig und was falsch, wahr oder unwahr ist. Was für eine vorzügliche Verblendung – ganz wertfrei. Wir perpetuieren (setzen fort) diesen Traum solange, bis wir erwachen. Es gibt mehrere 'Wege', die zum Erwachen führen. Durch verschiedene Ansätze, aus scheinbarem Zufall heraus, durch bewusste Entscheidungen, Gnade, usw. ... Ein Umstand, der das Erwachen erleichtert, ist, erwachen zu wollen. Das ist die Leuchtrakete. Danach setzt sich vieles in Bewegung.

Wichtig ist, zu erkennen, dass du selbst nicht dein Ego bist. Du bist auch nicht dein Verstand und nicht dein Körper, genau so wenig wie du dein Auto, dein Fahrrad, deine Unterhose, deine Vorlieben oder dein Geschlecht bist. Das sind alles nur beliebige [Erscheinungs]Formen, mögen sie auch noch so ausgewählt oder essenziell erscheinen. Das Einfache scheint schwer zu sein: Das Ego ist in Wahrheit nichts. Damit wäre alles relevante über das Ego gesagt, und es würde keine Probleme bereiten. Aber ganz so einfach machen wir es uns dann doch nicht.

Hier auf der Erde besteht die (gängige) Selbsterkenntnis seit Menschengedenken darin, die verkehrte Sicht als illusorisch zu identifizieren, sie umzukehren [oder zu "durchschauen"] und sich selbst als das zu erkennen, was [man als Nichtperson, als freie Existenz] ist. Immer noch gehen damit viele Konzepte und Ideen einher. Es gibt Bezeichnungen für den Weg und Worte für Quelle und Ziel, es gibt Symbole, falsche Hierarchien, etc.. Die Wahrheit liegt in der Stille – und überall. Sie ist unbeschreiblich, und doch gegenwärtig. Jenseits der Zeit, doch ist sie in jedem Augenblick zu finden. So weiß ich, dass ich nichts weiß.

Noch wird dieser Prozess von den Menschen oftmals als langer, mühsamer und anstrengender Weg beschritten. Auch sind es wenige, die ihr "Ziel" [das 'tiefere' Selbst zu erfahren] bislang erreichen. Ach so wütend kreist das zweischneidige Schwert des Urteilens, geführt von der Hand einer aus der Balance geratenen Spezies, die im Kollektiv primär egoistischen [nicht zuletzt wie im oben aufgeführten Sinne] Bedürfnissen folgt. Aber auch das hat seinen Sinn und Zweck. Es kommt der Moment, da ist das Selbstverständliche selbstverständlich. Frei von jeglichem Trugbild und unfassbar stabil. Damit einher geht die Erweckung der Menschheit und Friede auf Erden. Doch: Das ist auch nur ein Traum.

Weitere Texte werden von Zeit zu Zeit hinzugefügt...
Alle Texte: Dirk Gießelmann, » www.Soylent-Weiss.de » Impressum » Datenschutz

O